„Werkverzeichnisse und Selbstarchivierungspraktiken von Künstler*innen“

Am 2. und 3. Mai findet in der Aula der HBK Braunschweig die Tagung „Werkverzeichnisse und Selbstarchivierungspraktiken von Künstler*innen" statt. Seit den 1960er Jahren arbeiten Künstler*innen programmatisch in situ, das heißt in Bezug auf die Bedingungen von Ausstellungsräumen und sozialen, städtischen oder landschaftlichen Zusammenhängen. Umso wichtiger ist es geworden, das, was temporär realisiert wird, in Fotografien und Filmen festzuhalten. Künstler*innen dokumentieren daher zunehmend ihr eigenes Schaffen. Sie verlegen sich auf Selbsteditionen und Selbstarchivierung. Damit verändert sich das Verhältnis zwischen der Kunstgeschichte, die früher erst nach dem Ableben von Künstler*innen aus historischer Distanz Werkverzeichnisse angelegt hat, und einer künstlerischen Praxis, die Techniken des Archivierens nicht nur reflektiert, sondern diese auch aktiv anstößt und weiterentwickelt.

Mit Prof. Dr. Annette Tietenberg haben wir über die Entstehungsgeschichte und das Konzept der Tagung gesprochen.

 

Frau Prof. Tietenberg, können Sie uns etwas zum Tagungskonzept sagen?

In den vergangenen Jahren wurden am Institut für Kunstwissenschaft der HBK die Veränderungen des Werkbegriffs seit den 1960er Jahren erforscht. Die Tagung macht die Ergebnisse publik. Ein Fokus der Vorträge liegt im Bereich der Veränderung von Werkverzeichnissen, die durch die Möglichkeiten der Digitalisierung fortlaufend ergänzt und durch Verlinkung erweitert werden können. 

Zur Frage, was bei der Genese eines Werkverzeichnisses heute zu bedenken ist, sind am Institut für Kunstwissenschaft der HBK eine Reihe von Dissertationen verfasst worden bzw. sind derzeit im Entstehen begriffen. Meist gibt es einen Bezug zu Künstler*innen, die an der HBK gelehrt haben, darunter Marina Abramović, Raimund Kummer und Malte Sartorius. Wir betreiben also mit dieser Tagung in mehrfacher Hinsicht Selbstarchivierung: die HBK als Lehr-, Forschungs- und Bildungsinstitution – ihre Lehrenden und ihr wissenschaftlicher Nachwuchs – stehen im Mittelpunkt. 

Darüber hinaus wird es, ebenfalls exemplarisch für die Struktur der HBK, um das Verhältnis von Kunst und Kunstwissenschaft gehen, das sich durch den archival turn verändert hat. Sowohl Wissenschaftler*innen als auch Künstler*innen arbeiten mit Archivmaterialien, wenn auch auf unterschiedliche Weise. Zu diesem Thema hält unser Gast Prof. Dr. Peter J. Schneemann, der an der Universität Bern lehrt, am 2. Mai den Abendvortrag. Er ist Spezialist für den ökologischen Imperativ in der Kunst, hat aber schon vor längerer Zeit durch seine Vorträge und Publikationen den Blick auf die Selbstarchivierungspraktiken von Künstler*innen gelenkt. 

 

Die Tagung steht aber auch in einem größeren Zusammenhang, oder?

Ja, sie ist Teil des Forums „Spuren künstlerischen Handels – Künstler*innennachlässe in Braunschweig“. Es handelt sich dabei um eine regionale Kooperation zwischen der Braunschweigischen Stiftung, der Städtischen Galerie Wolfsburg und der HBK Braunschweig. Die Initiative geht auf die stellvertretende Leiterin der Geschäftsstelle der Braunschweigischen Stiftung, Susanne Schuberth, zurück. Die Stiftung hat 2017 – als Erbin und Verwalterin – die Treuhandstiftung des Künstlers Malte Sartorius übernommen. Sie hat als Akteurin also ein großes Interesse an der Frage, welche Vorkehrungen Künstler*innen treffen, damit ihr Werk nicht eines Tages in alle Winde zerstreut wird. 

Susanne Schuberth hat Kunstinstitutionen aus der Braunschweiger Region zusammengetrommelt, um gemeinsam Strategien zu entwickeln, damit Werke aus Niedersachsen bewahrt werden und gegebenenfalls öffentlich präsentiert werden können, wenn deren Urheber*innen nicht mehr in der Lage sind, sich selbst darum zu kümmern.

Wie sieht denn die Zusammenarbeit mit der Städtischen Galerie Wolfsburg und der Braunschweigischen Stiftung aus und welche Synergien werden dadurch geschaffen?

Jede beteiligte Institution hat, entsprechend ihrer Spezialisierung und ihres Tätigkeitsfelds, verschiedene Formate eingebracht. Beispielsweise richtet die Städtische Galerie Wolfsburg die Ausstellung „Malte Sartorius – Wandler zwischen den Welten“ aus und für die Jakob-Kemenate hat Stine Hollmann, Leiterin des Kunstvereins Wolfenbüttel und Alumna der HBK, eine Ausstellung mit Werken von Künstler*innen aus der Region kuratiert, die den Titel „clouds in the sky - (Aus-) Blicke aus den künstlerischen Nachlässen der Region“ trägt. In der Jakob-Kemenate finden darüber hinaus Podiumsdiskussionen und Workshops statt, die von der Braunschweigischen Stiftung ausgerichtet werden

 

Und auf welche Weise ist die HBK beteiligt?

Die HBK ist mehrfach involviert.

Zum einen hat das Projekt ja gewissenmaßen bei dem ehemaligen HBK-Professor Malte Sartorius seinen Ausgang genommen. 

Ich selbst bin durch einen Antrag auf Förderung eines strukturierten Promotionsstudiengangs zum Thema „Das Werkverzeichnis als werkkonstituierender Faktor in der Kunst seit 1960“ mit dem Thema vertraut. Und als Vorsitzende der Niedersächsischen Kunstkommission konnte ich das digitale Portal „Künstlerdatenbank und Nachlassarchiv Niedersachsen“ des MWK mitinitiieren, das 2017 ans Netz ging und seither intensiv genutzt wird. 

Zum anderen befassen sich viele meiner Promovierten und Promovierenden mit der Forschungsfrage, wo die Grenze zwischen einem künstlerischen Werk und der Dokumentation eines künstlerischen Werks verläuft. Während der Tagung werden sie darüber referieren, auf welche Weise Künstler*innen Werkpolitiken betreiben, was Künstler*innen sich ausgedacht haben, um sich dem Zwang zur Dokumentation – und damit der Illusion von Dauerhaftigkeit – zu entziehen, aber sie sprechen auch über die großartigen Möglichkeiten, die digitale Werkverzeichnisse heute bieten. Und das anhand von künstlerischen Positionen, die mit der HBK eng verbunden sind, darunter ein Superstar wie Dieter Roth, der in den 1970er Jahren immer wieder angereist ist, weil er mit niemandem so gut zusammenarbeiten konnte wie mit dem experimentierfreudigen HBK-Professor für Druckgrafik Karl-Christoph Schulz. Lokale Perspektiven spielen also eine wesentliche Rolle.

Und nicht zuletzt kuratiert Luciana Tamas, die sich in ihrer Promotion damit befasst, welche gesellschaftspolitische Dimension der künstlerisch motivierte Rückgriff auf Archive in Osteuropa hat, parallel zur Tagung eine Ausstellung, die in der Montagehalle der HBK zu sehen ist. Sie hat die renommierten rumänischen Fährtenleser*innen Dan und Lia Perjovschi dazu bewegen können, uns Einblicke in ihre künstlerischen Archive zu gewähren.
 

Das Interview führte Brigitte Kosch, Pressestelle der HBK Braunschweig

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